Desiderius - oder das Ende vom Anfang - Historisches Drama in 6 Bildern

VORGESCHICHTE 1838 hatte der Markt Aibling ein Jahrhundert der Katastrophen durchgestanden. Seuchen, Hungersnöte und verheerende Ortsbrände lähmten das öffentliche Leben. Im Dezember 1800 wählte der französische General Moreau Aibling zum Hauptquartier für die Entscheidungsschlacht bei Hohenlinden: Drei französische Divisionen machten den Ort zum Heerlager. 1803 wurden im Zug der Säkularisation sämtliche Kirchenschätze beschlagnahmt und von den Bürgern teuer zurückgekauft. 1809 war Aibling unter Napoleon das strategische Zentrum im Kampf gegen die Tiroler Freiheitsbewegung. Einquartierungen, Plünderungen und Vergewaltigungen gehörten zur Tagesordnung. Bald darauf erschütterte eine inflationäre Teuerung das Geschäftsleben. Den bittersten Rückschlag aber brachte die von Graf Montgelas organisierte Verwaltungsreform des Jahres 1808. Im Zuge einer grundlegenden Umstrukturierung wurde Aibling sein über tausend Jahre angestammter Gerichtssitz genommen und an Rosenheim übertragen: ein Desaster. Denn die Landgerichte fällten nicht nur zivil- und strafrechtliche Entscheidungen. Sie waren zugleich Vorläufer der modernen Landratsämter und Notariate. Kaum ein Amtsvorgang vom Immobilien-Register bis zum Aufgebot bei Heiraten, der nicht über diese Behörde abgewickelt wurde. Entsprechend groß war der Publikumsverkehr und mit ihm der Gewinn des Handels und des Gastgewerbes. Der Verlust dieser Instanz entzog dem Wirtschaftsleben des Marktes den Boden. Und der Verbleib des Rentamts als ungeliebter staatlicher Steuerbehörde bedeutete für Aibling eher einen Prestigeverlust.

Zwar brachte im Gegenzug der rapide anwachsende Personen- und Güterverkehr auf der Chaussee München-Innsbruck den Aiblinger Wirten Gewinne. Dennoch versuchte der Magistrat mit allen Mitteln, das Landgericht zurück zu erlangen. 1838 wurden diese Bemühungen endlich mit Erfolg gekrönt: Eine Entscheidung König Ludwigs I. machte den Weg frei, und der Markt gab bereitwillig alle Garantien, die anfallenden Bau- und Unterhaltskosten selbst zu tragen. Entsprechend heftig waren Entrüstung und Schadenfreude bei den Regierungsinstanzen, als der Magistrat am Ende beschämt eingestehen musste, er sei zahlungsunfähig und könne die Baukosten nicht aufbringen. Dennoch wurde das Gericht fristgerecht fertig und am 24. Oktober feierlich eingeweiht.

Desiderius Beck wuchs indessen in einer Atmosphäre großbürgerlicher Kultur auf. Der Vater Karl Theodor Beck war bereits in seiner Studentenzeit als Schriftsteller hervorgetreten. Als Desiderius am 28. Januar 1804 geboren wurde, lebte sein Vater als Herrschaftspfleger des bayerischen Johanniterordens in Ebersberg, wo er u.a. dem heftig umstrittenen Reformtheologen Johann Sailer Asyl gewährte. 1809, also am Höhepunkt des Tiroler Volksaufstandes, wurde Karl Theodor Beck als Landrichter ins bayerisch besetzte Innsbruck berufen - eines der exponiertesten Ämter, welches das Königreich damals zu vergeben hatte. Mehrfach musste die Familie vor den Kampfhandlungen flüchten. Beck jedoch erwarb sich Hochachtung bei Freund und Feind.

Nach einer Ausbildung an zahlreich wechselnden Schulen begann der Sohn ein Medizinstudium an der Universität Würzburg und schloss es 1826 mit seiner Dissertation „Versuche über die Acupunctur“ ab. Nach einer kurzen Episode als Hausarzt des Grafen La Rosée ließ sich Dr. Desiderius Beck 1829 als praktischer Arzt in Aibling nieder. Doch schon zwei Jahre später übersiedelte er nach Rosenheim, übernahm kommissarisch die Stelle des Salinarztes, erwarb das Chirurgenhaus am Ludwigsplatz, wurde Mitglied des Rosenheimer Rates und heiratete Apollonia Zollner, die Tochter des wohlsituierten Flötzinger-Bräus.

Doch Becks Hoffnung auf eine Festanstellung scheiterte. So nahm er 1835 zähneknirschend eine Stellung als staatlicher Landgerichtsarzt in Wolfratshausen an; zugleich bestürmte er die Regierung mit Anträgen auf Rückversetzung nach Rosenheim. 1838 bot sich die Neuinstallierung des Aiblinger Landgerichts als Zwischenschritt zu diesem ersehnten Ziel an. Ein entsprechendes Gesuch wurde auch prompt genehmigt. Doch sämtliche Folge-Anträge um eine Stelle in Rosenheim prallten ab. Dr. Beck blieb wider Willen in Aibling; während sein Bruder Friedrich Beck als gefeierter Schriftsteller in München Furore machte.




BILD I

Gemäß der Chronik Stephan Stürzers nahmen an dem Ball vom 24. Oktober 1838 im Schuhbräusaal neben den Aiblinger Honoratioren alle neuinstallierten Beamten des Aiblinger Landgerichtes mit ihren Gattinnen teil: Der ehemalige Rosenheimer Gerichts-Assessor Anton von Schmid als neuer Landrichter, die Herren Bolkart und von Branca als dessen Assessoren, der Garmischer Apotheker Anton Burger als Betreiber der neu eingerichteten Aiblinger Apotheke. Schließlich Dr. Desiderius Beck, als Gerichtsarzt zuständig für Atteste, die Betreuung des örtlichen Krankenhauses sowie die allgemeine medizinische Versorgung. Ehrengast des Abends war Regierungskommissar Wilhelm von Kobell als oberster Aufsichtsbeamter der dezentralen staatlichen Behörden Bayerns. Assessor Max von Branka konnte wegen Münchner Verpflichtungen sein Aiblinger Amt erst mit Verspätung antreten. Dafür sorgte seine Verlobung mit Maria Walburga Sophia, der Tochter des von Ludwig I. persönlich berufenen Ministerialsekretärs Ott, für Aufsehen. Die Hochzeit fand Anfang 1839 in Aibling statt.

Der Aiblinger Marktschreiber Stephan Stürzer, dessen umfangreiche Quellensammlung bis heute die Grundlage der örtlichen Geschichtsschreibung bildet, war als notorischer Junggeselle und humorvoller Zechgenosse ein Mittelpunkt der heimischen Geselligkeit. So sorgte seine späte Heirat mit der Erdinger Lehrerstochter Kreszentia Bauer im Mai 1838 für freudige Überraschung.

Ein Rosenheimer Heilbad mit dem mineralhaltigen Wasser der Küpferling-Quelle war bereits anno 1700 gegründet worden. Allerdings erfuhr es Anfang des 19. Jahrhunderts einen desolaten Niedergang. Kaum ein Rosenheimer glaubte an die Zukunft des Unternehmens, als der praktische Arzt Dr. Halbreiter die marode Liegenschaft erwarb, umfassend sanierte und seine Mineral- und Solebäder ab 1838 mit großem Werbeaufwand neu vermarktete. Die damals modernste Kuranwendung, wie sie - übrigens gleichfalls im Jahr 1838 - erstmals in Karlsbad verabreicht wurde, hatte Dr. Halbreiter allerdings noch nicht im Angebot: Heilbäder in erhitztem Moorschlamm.




BILD II

1843 verkaufte Dr. Beck das Rosenheimer Chirurgenhaus und erwarb dafür Grundstücke am damaligen Aiblinger Ortsrand an der Rosenheimer Landstraße. Unmittelbar neben ihm kaufte Apotheker Burger ein Stück Baugrund. 1843 begann Beck zunächst mit der Errichtung seines Wohnhauses (dem heutigen Ostflügel des Ludwigsbads). Im September 1844 erfolgte dann die Grundsteinlegung seiner „Soolen- und Moor-Schlamm-Bad-Anstalt“. Noch im Herbst wurde der Rohbau vollendet und im Frühjahr 1845 so weit benutzbar gemacht, dass Dr. Beck mit einem Testlauf seiner Therapie beginnen konnte. Am 26. Mai 1845 wurden die ersten Anwendungen verabreicht. Doch schon ab 17. Mai diente der Zimmermann Andreas Stephan als „Versuchskaninchen“. Den Herbst und Winter des Jahres 1845 nutzte Dr. Beck dann für intensive organisatorische Vorbereitungen. Er schrieb eine Broschüre über sein Bad, gründete die Aiblinger Liedertafel sowie einen Ortsverschönerungsverein. Am 1. Mai 1846 wurde die Moorbadeanstalt feierlich eröffnet.




BILD III

Das Revolutionsjahr 1848 hinterließ auch in Aibling Spuren. Die Spannung machte sich unter anderem in Protesten wegen des Bierpreises sowie in anonymen Drohbriefen gegen die beiden Wirte-Familien Wild und Duschl Luft, die nach umfangreichen Grundstücks-Transaktionen Aibling weitgehend beherrschten. Zündstoff lieferte auch der ultrakonservative Ortspfarrer Mayer, der sich mit seinen denunziatorischen Kanzelreden große Teile der Bevölkerung und der Beamtenschaft zum Feind gemacht hatte. Der schwärende Konflikt entlud sich, als der beliebte Ellmosener Kooperator Joseph Grassinger nach heftigen Differenzen mit Pfarrer Mayer die Konsequenzen zog und sich nach München versetzen ließ. Grassinger, der später zum bedeutendsten Aiblinger Lokalhistoriker werden sollte, nahm in einer geselligen Feier Abschied, an der auch die Kinder des Ortes aktiv Anteil hatten.

Dr. Beck plagten zu diesem Zeitpunkt allerdings andere Sorgen. Der Badbetrieb erwies sich als unrentabel. Einzig ein Restaurant nach dem Vorbild des Rosenheimer Bades konnte das Unternehmen retten. Doch dieses Resturant verweigerte der Magistrat auf Druck der Aiblinger Wirte kategorisch. Schließlich entlud sich die angespannte Stimmung in einem Eklat. Dr. Beck und eine Reihe seiner Beamten-Kollegen, darunter der als Schläger und Revoluzzer berüchtigte „Exstudent und Cuirassier“ Luser Widder veranstalteten vor dem Pfarrhof eine nächtliche Katzenmusik und lösten damit eine allgemeine Prügelei aus, in deren Folge auch sämtliche Fenster des Beck’schen Wohnhauses zu Bruch gingen und die von ihm gepflanzten Alleebäume gefällt wurden.




BILD IV

Am 22. Juni 1855 stand Dr. Beck endgültig vor dem Bankrott. Er veräußerte sein Bad, das Wohnhaus und alle zugehörigen Immobilien für 24.000 Gulden (nach heutigem Geldwert ca. 480.000 Euro) an den Münchner Apotheker Karl Ritter von Berüff und arbeitete von nun an als angestellter Arzt in dem von ihm gegründeten Betrieb. Zugleich nahmen seine Verpflichtungen als Landgerichtsarzt überhand. Die Errichtung der Maximiliansbahn erforderte immer neue Atteste, der Ausbau industrieller Ansiedelungen in Heufeld und Kolbermoor war begleitet von schweren Arbeitsunfällen. Zudem bereiteten die schulischen Misserfolge der beiden Söhne und die fehlende Mitgift für die zwei Töchter Probleme. Becks Gesundheit verfiel. Im April 1858 kam es schließlich zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Ritter von Berüff. Beck wurde nicht nur als Badearzt fristlos gekündigt. Berüff strengte sogar einen Prozess wegen Beleidigung und Geschäftsschädigung gegen ihn an.




BILD V

Die Eisenbahn brachte in Aibling den bisherigen Personen- und Güterverkehr per Pferdefuhrwerk weitgehend zum Erliegen. Doch Bernhard Duschl hatte die Zeichen der Zeit erkannt und seine Poststation durch das komfortable Hotel Duschlpost ersetzt. 1861 gelang ihm eine weitere, entscheidende Transaktion. Sein junger Chefkellner Otto Beutling, Sohn eines Münchner Schusters, trat als Kaufanwärter des Berüff‘schen Bades und zugleich als Verlobter von Duschls Tochter Maria auf (die andere Tochter Katharina war bereits mit dem Sohn des ehemaligen Konkurrenten Wild verheiratet). Schließlich wechselte das Bad für 45.000 Gulden (ca. 900.000 Euro) den Besitzer. Dr. Beck, nunmehr Bezirksarzt des neuen Rosenheimer Bezirksamtes, wurde als konsultierender Badearzt erneut zur Galionsfigur des Unternehmens, welches den Wild-Duschl-Clan endgültig zum beherrschenden Machtfaktor der Aiblinger Wirtschaft machte.




BILD VI

Als sich der Aiblinger Magistrat entschloss, Dr. Beck am 30. Juli 1875 die Ehrenbürgerwürde zu verleihen, war diese Entscheidung umstritten. Denn der gealterte Arzt vernachlässigte seine Dienstpflichten und brachte durch seine Streitsucht Kollegen und Verwaltung gegen sich auf. Vor allem der Arzt Dr. Anton Gschwändler fühlte sich von ihm brüskiert und opponierte entsprechend. Andererseits war Beck inzwischen zum Aushängeschild des Aiblinger Kurwesens avanciert - obwohl auch Beutling mit dem Bad zunächst gescheitert war und es im Zuge eines Insolvenzverfahrens an Berüff rückveräußerte. Doch nach dem Krieg von 1870/71 nahm der Badebetrieb endlich den ersehnten Aufschwung. Neue Kuranstalten entstanden. Sogar die Idee eines Kurhauses nach dem Vorbild Ischls rückte in greifbare Nähe. Einzig Dr. Beck stand trotz des späten Ruhmes vor den Trümmern seiner gescheiterten Träume. Er starb am 11. August 1877.